Volksfeste haben es heute nicht leicht. Anno dazumal im ereignisarmen Arbeitsjahr von allen sehnsüchtig erwartet um ungezügelter Lebensfreude endlich Raum zu geben, wurde ihnen bereits seit geraumer Zeit (auch) durch eine penetrante allgegenwärtige Spaß-, Party- und Eventkultur der Rang abgelaufen. Die vielen fast jederzeit zugänglichen Freizeitparks erschweren ihnen das Leben zusätzlich.
Stellt man sich diesen Veränderungen nicht, wird man nach hinten durchgereicht. Dort ist für mich das Ingolstädter Volksfest angekommen. Egal ob Pfingsten oder jetzt im Herbst. Nach dem eröffnenden – regelmäßig gelungenen! – Festzug versinkt die Veranstaltung für den Rest ihrer Zeit in Lieblosigkeit und Ballermann-Anmutung.
Natürlich habe ich dabei im Besonderen zunächst das Essen im Auge. Eine nicht unwesentliche Zutat für Lebensfreude! Dieser unglücklich formulierte Bericht (Überschrift und Einleitungssätze) hat mir vergangenen Freitag Hoffnung und Lust gemacht. Vor Ort dann Fehlanzeige. Wieder wurde beim Wiesn-Klassiker die Latte gerissen! Es gibt kein Bio-Hendl. Was in München eine schöne Selbstverständlichkeit ist und in Pfaffenhofen gerade auf ganz wunderbare Weise gemeistert wurde (wertig regional und Bio) schafft Ingolstadt – die Weltmetropole – einfach nicht. Der Anfang war gemacht. Der Rückschlag setzt sich laufend wieder durch. Wo ist endlich der Vorsprung durch Genuss in der Stadt, aus dem die dumme Idee „Geiz ist geil“ kommt?
Fehlt hier die Nachfrage oder das Angebot? Beides. Die Masse der gegenwärtigen Volksfestbesucher fragen Bio offensichtlich nicht wirklich nach. Vor dem Hintergrund, wie unendlich wichtig ein nachhaltigerer Umgang mit Boden, Wasser, Luft und Biodiversität wäre, ist das bitter. Die derzeitige Besucherstruktur ist nach meiner Beobachtung jedoch kein Abbild der Gesellschaft. Aber soll es nicht gerade ein Volksfest sein? Ein Fest für alle? Und da kommen jetzt die Wirte ins Spiel. Wo ist deren Angebot für weitere (nicht bessere!!!) Schichten der Bevölkerung? Warum adressieren sie so eng. Der Kuchen ist doch so viel größer. Die Henne-Ei-Frage ist hier klar beantwortet. Die Nachfrage ist da, wird aber nicht bedient. Deshalb bin ich zum Brotzeiten auch wieder nach Hause gegangen. Andere bleiben gleich dort. Wie gerne würde ich z. B. auch mit unserer Kanzlei Mandanten etwas Gutes tun und sie vor Ort zur Mittags-Wiesn einladen. Ich weiß von nicht wenigen Selbstständigen, denen es mit ihren Kunden auch so geht. Vielleicht übertreibe ich jetzt ein bissl, aber es müsste fast ein wenig zum guten Ton gehören gerade hier dabei zu sein – think global, act local! Die Realität: Große Leere zur Mittagszeit. Es gibt nicht ansatzweise Engpässe bei der Reservierung oder gar Wartelisten. Das Spiegelbild eines fehlenden Angebots … Und zu diesem gehören für mich und meine Gäste – wenn sie denn keine Vegetarier oder Veganer sind – ein Huhn mit einem anständigen Leben vor dem Tod.
Und man komme mir jetzt bitte nicht mit dem Preis. Nicht beim Essen. Nichts kommt uns so nah, wird gar Teil von uns! Es ist keine Frage des Könnens, sondern des Wollens. Eine Frage der Priorität. Im Handy-Shop weitet sich der Gürtel … Motor- oder Salatöl? Wer sollte den ersten Zugriff in den Geldbeutel haben?
Ich bin wahrlich kein Freund des Industrie-Essens von McDonald’s. Aber selbst deren Fisch ist nach den MSC-Umweltstandards zertifiziert. Soeben wurde dort verkündet, dass bis zum Jahresende wieder alle Hähnchenprodukte von Tieren stammen, die mit gentechnisch unveränderten Futtermitteln aufgezogen worden sind. Und dann soll es jetzt sogar erstmals Burger mit Bio-Rindfleisch geben. Wenn also selbst dieser Konzern die Signale hört…
Noch ein aktuelles Beispiel, diesmal wieder aus Ingolstadt. War die Freude nicht gerade groß über den sehr gelungenen Einstand von Jürgen Nüsslers (Weinschmecker) Weinfest auf dem Paradeplatz? Er setzte im Gegensatz zu dann letztendlich auch gescheiterten Masse statt Klasse-Vorgängerveranstaltungen beherzt auf Qualität bei Essen und Trinken! Und wurde dafür zurecht belohnt.
Ich bin mir absolut sicher, dass man mit der von der Politik/Verwaltung bisher präferierten „Freiwilligkeit“ für Veränderungen bei diesen Wirten nicht mehr weiterkommt. Man sollte das Tragen zur Jagd beenden und baldmöglichst zum Diktat bitten. Die Situation erinnert mich durchaus auch an die unerträglich langen Hängepartien beim Nichtraucherschutz. Die Allerwenigsten wollen hier übrigens zum Zustand vor dem 1. August 2010 zurück.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Das Bio-Hendl wird es nicht einzig richten. Es gibt mehr Stellschrauben. Und es wird dauern, bis sich der gedrehte Wind herumspricht. Ich stelle mir also vor, ich wäre Festwirt (mit Lust am Beruf und Phantasie). Was würde ich – weitere Teile des Volks ansprechend – begleitend zum zukünftig besseren Essen machen?
- Boxsport, als olympische Disziplin zumal, ist aller Ehren wert. Heute sind die Zelte sogar (endlich) rauchfrei. Ich würde den Amateurvereinen der Region (wieder) einen Ring geben.
- Ich würde über Brauchtumssportarten wie das Fingerhakeln nachdenken.
- Ich würde den unzähligen Schützenvereinen der Region eine Bahn frei machen (Oktoberfest: Armbrustschützenzelt und Schützen-Festzelt).
- Ich würde darüber nachdenken, wie man Trachtenvereine über den Festzug hinaus stärker einbinden kann.
- Ich würde dem Ballermann einen Abend geben. Und ansonsten der echten Volks- und der jungen Volxmusik eine Bühne bereiten. Im Stil eines musikantenfreundlichen Wirtshauses gerne auch eine offene Bühne.
- Ich würde einen bayerischen Poetry Slam veranstalten.
- Ich wurde über einen Tanzboden nachdenken.
- Ich würde mir auf dem Oktoberfest den wunderbaren Erfolg der „Oiden Wiesn“ ansehen, begreifen und wesentliche Weichen Richtung Entschleunigung und echte Gemütlichkeit (eine bayerische Herzensangelegenheit) stellen.
- Noch einmal zum Essen: Was sich im Münchner Festzelt der Ochsenbraterei dreht ist klar. Ich würde mal einen Versuch mit gegrillten Altmühltaler Lämmern machen. Ein nicht unbeachtlicher Anteil türkischer Schanzer würde das sicher auch begrüßen.
Ich kann Euch gar nicht sagen wie viel Lust ich auf eine solche Schanzer Wiesn hätte! Wenn nur endlich die Verantwortlichen begreifen würden, dass ich damit nicht alleine bin …
Die beiden Hähne auf den Bildern oben finden sich in der aktuellen La Grande Schmierâge in der Klein-Salvator-Straße.
Hallo Michael, als Vorstand des Box Club Ingolstadt 1954 e.V. fühle ich mich direkt angesprochen.
Unser Verein hat jahrzehntelang auf den Volksfesten am Sonntagvormittag zum Teil hochklassige Box-Vergleichskämpfe organisiert und durchgeführt.
Um auch am Sonntag früh das jüngere Publikum anzusprechen, haben wir das Rahmenprogramm mit Ringsprecher, Nummerngirls, Einmarschmusik, Pausenauftritte etc. erheblich aufgewertet. Dadurch ist es uns auch gelungen die Zuschauerzahlen in den inzwischen riesigen Zelten erheblich zu steigern. Dies war alles nur mit immensen Aufwand und Kosten möglich.
Langfristig wäre das nur durchzuhalten gewesen, wenn uns die Festwirte dabei aktiv unterstützt hätten. Stattdessen sollten wir weiterhin für ein paar Hendlmarken den Lückenfüller für den Sonntagvormittag abgeben. Ich musste schon froh sein, wenn ich die Plakate vorher rechtzeitig aufhängen konnte.Selbst Strom und Lautsprecher mussten wir uns teilweise selber organisieren. Ab 11:30 Uhr mussten wir die Kasse schließen, damit andere Gäste nicht behindert wurden. Insider wissen aber natürlich, dass die besten Kämpfe regelmäßig in der 2. Hälfte stattfinden und sie somit kostenlos zuschauen konnten. Wir haben regelmäßig erheblich drauf gezahlt, was für einen gemeinnützigen Verein nicht so ohne weiteres zu verkraften ist.
Alle Bemühungen eventuell eine Nachmittags- oder gar Abendveranstaltung auf die Beine zu stellen, ist am Desinteresse der Wirte gescheitert.
Stattdessen spielen jetzt Musikkapellen, die ganz bestimmt nicht umsonst sind, in den nahezu gähnend leeren Zelten.
Die Tradition der Boxkämpfe auf den Volksfesten in Ingolstadt könnte jederzeit wieder aufleben, aber nur, wenn die Festwirte den Verein dabei aktiv unterstützen und nicht nur dulden. Man möge sich nur einmal das Beispiel in Straubing anschauen.
Im Übrigen meide ich persönlich inzwischen alle so genannten Volksfeste wie Oktoberfest, Barthelmarkt und Ingolstädter Pfingst- und Herbstfest aus den von dir oben angeführten Gründen. Auf die überall eingerissene Ballermann – Atmosphäre lege ich keinen Wert.
Gefreut hat es mich allerdings, dass unsere Boxveranstaltungen offensichtlich doch vermisst werden.
Gruß
Alois
Ich dachte in Deutschland gilt die Marktwirtschaft die Angebot und Nachfrage zelebriert. Und wenn nach Angeboten leider Biohähnchen am Grill verdörren, dann hat ja der Verbraucher abgestimmt.
Aber was sehe ich auf der Speisekarte der Lanzl Gastronomie:
– Bio Sauerkraut zu den Würstln,
– Gulasch vom Biorind und Biospätzle,
– zwei vegetarische Gerichte und
– ein veganes Gericht …
– und Bio Kaffefe
Na euso! Was soi de Aufregung?
An die kulinarischen Höchstleistungen des Ingolstädter Herbstfestes schließen sich die, des Eichstätter Volksfestes, nahtlos an. So richtig genussvoll geht´s da, trotz allen Bemühens, leider auch nicht zu. Die nimmermüden Organisatoren ließen für 2015 sogar die Chance aus den, neu installierten „Weinstadl“, in die entsprechende Richtung zu etablieren:
Highlight des Angebotes dort: Currywurst mit Pommes, deren Odör alle anderen Gerüche nicht nur dominierte, sondern sich sogar in der Kleidung der Gäste niederließ. Vielleicht war´s auch ganz gut so. Dass es mit dem Genuss auf den diversen Festen auch anders geht, dafür gibt es ,Gott sei Dank, gute Beispiele. Dem Padrone wäre zu wünschen, dass seine Gedanken bei aller Beratungsresistenz der Veranstalter auf fruchtbaren Bio-Boden fallen. Sonst sehe ich in meinem Institut für die Zukunft schwarz. Nicht einmal bestes bayerisches Bier hält schlechtem Essen in Verbindung mit noch schlechterem Entertainment Stand.
Dennoch – bei aller Kritik an Bierschwemme und Erbrochenem, an bunten Dirndln aus Zalandonien und lautem Hitgewittern aus allen Himmelsrichtungen: Der Steckerlfisch ist immer eine Anreise wert. Und das Riesenrad. Ansonsten fallen mir auch keine Argumente für eine Wies´n ein. Weil ich in München im Taxi genug Wies´n für alle Zeiten hatte. Aber so ein Gstanzl-Wettbewerb würde mich vielleicht auch vor den heißen Ofen locken.
Das ist so wunderbar geschrieben! Ich würde gerne jeden Ingolstädter zwingen es zu lesen. Es in die Zeitung schreiben, es als Wurfblatt in die Briefkästen werfen, es an die Litfaßsäulen kleben, es allen Stammtischbrüdern persönlich übergeben, es den Politikern ans Hirn pappen, es den Wirten als Geschäftsidee verkaufen… Und weil ich Gedichte liebe, jetzt auch noch ein Huhn Gedicht.
Das Huhn
In der Bahnhofhalle, nicht für es gebaut,
geht ein Huhn
hin und her…
Wo, wo ist der Herr Stationsvorsteh’r?
Wird dem Huhn
man nichts tun?
Hoffen wir es! Sagen wir es laut:
daß ihm unsre Sympathie gehört,
selbst an dieser Stätte, wo es — ,stört’!
Christian Morgenstern
Aus der Sammlung Galgenlieder
Genau so (!) und nicht anders – der einzige Weg mich, und sicher viele andere, wieder auf eine „Wiesn“ zu bringen!
Genau auf den Punkt getroffen! Und jetzt gleich Rechnung schreiben für die Beratungstätigkeit! Unglaublich dass ein Wirt da nicht selbst drauf kommt!
Also ich will ja nicht gemein sein, dennoch erfüllt mich der Artikel mit einer gewissen Genugtuung. Seit man im Bierzelt nicht mehr rauchen darf und im Freien schon fast dafür geächtet wird ist für mich das Volksfest nur mehr wenn überhaupt attraktiv bei schönem Wetter und angenehmen Temperaturen, wenn überhaupt. Ergo – wir bleiben zuhause und machen es uns da gemütlich mit einer oder ein paar mehr Maß Bier – Ist im Übrigen viel billiger und Parkplatz muß man auch nicht suchen. – Warum soll es ausgerechnet Euch Bios besser gehen. Wenn Euch das Angebot auf dem Volksfest nicht zusagt; es zwingt Euch doch keiner dort hin zugehen. Wie wäre es mit Eigeninitiative z.B. macht doch selbst einen Stand auf mit Euren gewünschten Lebensmitteln und seht mal ob sich das Rentiert. Nicht böse sein aber gleiches Recht für alle. Liebe Grüße Lissy
Super Artikel, Michael. Auf so ein Volksfest würde ich auch gehen!! Mach dich mal…
Klasse zum Ausdruck gebracht und mit „La Grande Schmierage“ herrlich in Szene gesetzt, doch ich gehöre und zitiere die zutreffende Textpassage „Andere bleiben gleich dort.“
Doch würden die Anregungen umgesetzt werden, wer weiß, wer weiß…
Klasse Artikel! Ich schließe micht Petra Kleine an: Besser kann man es nicht schreiben. Auf den Punkt gebracht.
Besser kann man es nicht sagen oder schreiben! Chapeau.
Schön ist die Verbindung zu Musik- und Lebenskultur …